LOSLASSEN – KUNST ODER QUATSCH?

LOSLASSEN – KUNST ODER QUATSCH?

 

„Ganz ehrlich: ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Wie soll das überhaupt funktionieren? Einfach löschen, oder was? Jeder redet vom Loslassen, aber mich kotzt dieses Thema mittlerweile echt an.“

 Dies sagte vor Kurzem eine Teilnehmerin in einem meiner Seminare. Hintergrund war bei Ihr das Überwinden einer Erfahrung des Scheiterns in beruflicher Hinsicht.

Ich konnte Ihren Ärger gut nachvollziehen, auch mir begegnet das Loblied aufs Loslassen gefühlt an fast jeder Ecke und in jedem zweiten social-network-post, meist noch dekoriert von einem lächelnden Buddha oder einem fliegenden Luftballon. Und irgendwie lassen mich diese ganzen beseelten guten Ratschläge kalt. Obwohl ich meine Kompetenz im Loslassen gern erweitern würde.

Aber was genau heißt eigentlich loslassen, und was ist so toll daran?

Ich habe viel darüber nachgedacht, in mich hinein gespürt und nach einer Bedeutung gesucht, die sich für mich richtig anfühlt.

Vermutlich wünschen wir uns alle manchmal einen „delete-button“, einen Knopf, mit dem wir negative und verletzende Erfahrungen löschen können, wenn sie zu weh tun und wir keinerlei Nutzen in diesem Leid erkennen. Wenn uns die große Liebe das Herz bricht, wenn der berufliche Erfolg ausbleibt, obwohl wir alles dafür gegeben haben, oder wenn wir einen Verlust erleiden, der uns emotional den Boden unter den Füßen wegzieht. Wenn uns schlechte Erinnerungen immer wieder verfolgen und einholen, egal wieviel Zeit vergehen mag und das Licht am Tunnel einfach nicht aufleuchten will. Dann wäre es toll, die Stopp-Taste zu drücken und alle diese Gefühle in den mentalen Papierkorb zu verschieben. Endlich wieder frei von Schmerz, endlich mal wieder Ruhe!

Aber ganz ehrlich: Wann immer ich dieses theoretische Löschen-Szenario in meinem Kopf und Herzen durchgespielt habe, hat sich ihn mir etwas gesträubt. Ich wollte diese Erfahrungen gar nicht wirklich loswerden, diesen Menschen nicht vergessen, diesen Teil von mir nicht abspalten. Ich wollte sie behalten – aber eben weniger schmerzhaft.

Loslassen bedeutet nicht auslöschen

 Wenn Loslassen nicht löschen heißt, was kann es dann bedeuten? Wie kann ein Kompromiss aussehen zwischen Behalten und dennoch Distanz schaffen? Wie kann ich zu dem Punkt gelangen, schmerzhafte Erfahrungen so in meine Geschichte zu integrieren, dass Sie mich nicht lähmen sondern im Idealfall sogar bereichern?

Der erste Schritt könnte sein zu akzeptieren, dass auch schmerzhafte Erfahrungen zu meiner Geschichte gehören und darauf zu vertrauen, dass sich mir irgendwann ihr Wert erschließt. Diese Akzeptanz braucht Zeit und Geduld.

Schmerz, Verletzung und Scheitern anzunehmen ist eine Herausforderung, in der Regel möchten wir diese negativen Gefühle vermeiden. Und wenn sie doch eintreten, reagieren wir mit Abwehr, machen Andere dafür verantwortlich, sind wütend, verbittert, fühlen uns ungerecht behandelt oder verfallen in Selbstmitleid. War ja klar, dass uns das wieder passieren muss, oder?

All diese Gefühle sind berechtigt und dürfen ihre Zeit haben – aber fürs Loslassen hilft das nicht wirklich weiter. Und wenn wir uns dann noch voller Ungeduld oder Schuldgefühlen unter Druck setzen, weil das mit dem Loslassen partout nicht funktionieren will, klappt oft gar nichts mehr. Dann fühlen wir uns mehr denn je gefangen in diesem grauen Kreislauf. Mir zumindest ist es oft so gegangen.

Loslassen braucht Zeit

Wie können wir also für unsere schmerzhaften Erfahrungen einen erträglichen Platz schaffen, wenn wir die Zeit der akuten Trauer, Wut und Enttäuschung in unserem Tempo überwunden haben? Wie können wir den abstrakten Begriff des Loslassens mit Inhalt füllen?

Ich habe vor kurzen einen Satz gelesen, der mir endlich wirklich dabei geholfen hat, das Thema Loslassen für mich greifbar zu machen.

Loslassen bedeutet nicht Loswerden.

Dieser Satz hat mich persönlich tief angesprochen, weil er mir einerseits die Erlaubnis gibt, meine Erfahrungen und Gefühle zu behalten und gleichzeitig nach vorne blickt. Weil ich nichts unwiderruflich weggeben „muss“, wenn ich es nicht will.

Loslassen heißt Sein-lassen

Wie kann ich also halten und gleichzeitig vorwärtsgehen?

Für mich liegt die Lösung im Sein-lassen.

Den Moment zu erreichen, wo ich die Erfahrung annehme und sie als einen Teil von mir in Ruhe lasse. Sie ohne Drama akzeptieren und mir nicht mehr den Schlaf und die gute Laune rauben lassen. Wo ich ihren Wert erkennen und die Erkenntnisse, die sie mir geliefert hat, nutzen kann. Einfach SEIN lassen und mit Abstand ohne Zorn betrachten. Dies kann ein langer, beschwerlicher Weg mit vielen Kurven und Stolpersteinen sein. Ein Weg, der seine Zeit braucht. Aber am Ende dieses Weges strahlt mir ein unglaublich kraftvolles Ziel entgehen:

NEUANFANG!

 

Was bedeutet Loslassen für Dich?