Seele vs. Ego: Kampf der Giganten

Seele versus Ego

Es tobt ein wilder Kampf in Marina.
Ein Kampf der Giganten. Seele und Ego liefern sich eine erbarmungslose Schlacht. Aber von dieser Schlacht und den beiden Protagonisten merkt Marina erstmal nichts.
Alles, was Marina spürt ist eine lähmende Erschöpfung und gleichzeitig das Gefühl, in einem Schnellzug festzustecken, der mit Vollgas ins Nirgendwo rast ohne die Möglichkeit auszusteigen. Sie versucht zu stoppen, aber das Tempo ist einfach zu hoch.

Marina hat viel in ihrem Leben geleistet.

Sie hat als Junior-Projektmanagerin in einer renommierten Werbeagentur vor vielen Jahren angefangen und sich mit viel Talent, unerbittlichem Fleiß und eiserner Disziplin hochgearbeitet. Nun ist sie Teil der Geschäftsführung und ganz oben angekommen. Genau da wollte sie immer hin. Gehört, gesehen und gefragt werden. Sie gilt als Koryphäe auf Ihrem Fachgebiet, als Garantin für kreative Ideen, hat sich zum Kundenmagneten entwickelt und ist ständig unterwegs. Und das alles auch noch für sehr viel Geld. Sie wird anerkannt, persönlich und monetär. Sie ist wichtig. Und das fühlt sich verdammt gut an.
Die langen Jahre des Ackerns haben sich gelohnt und nun fährt Marina jeden Tag eine reiche Ernte ein. Sammelt die Früchte für die Entbehrungen, welche sie für ihren Erfolg in Kauf nimmt. Für die Vernachlässigung ihrer eigenen Bedürfnisse, ihrer Freunde, ihres Partners – von ihrer kleinen Tochter gar nicht zu reden. Sie weiß genau, dass die Zeit nicht wiederkommt, dass Sie mehr für ihre Kleine da sein müsste und auch für sich selbst. Und sie versucht sich zu trösten mit dem Gedanken, dass Sie all den materiellen Wohlstand für Ihr Kind erarbeitet, damit es später abgesichert ist und auch sie selbst sich einen schönen Lebensabend machen kann. Sie versucht wirklich ihr Allerbestes, um es Allen in ihrem Umfeld so recht wie möglich zu machen – und doch ist es nie genug. Es bleibt immer etwas liegen, irgendjemand fühlt sich immer vernachlässigt.

„Lass mich wieder atmen“, schreit ihre Seele, während das Ego brüllt: „Ich werde mich nicht wieder kleinmachen, wo ich so hart für meinen Erfolg gearbeitet habe.

Unser Ego ist nicht nur ein harter Gegner sondern auch ein Gewohnheitstier. Fühlt es sich einmal gestreichelt, möchte es nicht auf das gute Gefühl der Anerkennung und des Rechthabens verzichten. Zu groß ist der Wert, den unser Ego dieser Resonanz von außen beimisst, zu verlockend die Aussicht besser als Andere zu sein. Schließlich haben wir uns das durch die unzähligen Extrameilen, die wir gelaufen sind, verdient. Es tut so gut, gewollt zu sein.
Unser Ego ist ein brüllender starker Löwe, der es gar nicht mag, wenn in seinem Revier gewildert wird. Er verteidigt sein Territorium unbarmherzig, bis er wieder der Alleinherrscher ist. Unser Ego hat jede Menge Kraft.
Unsere Seele schlägt oft leisere Töne an. Sie schreibt zwischen die Zeilen und singt im Hintergrund ihr leises, mahnendes Lied. Spricht zu uns in den kleinen Momenten, in denen die Frage in uns wach wird, ob dieser Weg auf Dauer wirklich der richtige für uns ist, ob das so wirklich alles Sinn macht. Ob wir wirklich glücklich sind. Sie sendet uns gemeinsam mit ihrer Partnerin namens Intuition weise Impulse der kritischen Reflexion, die unser Ego sofort versucht zu bekämpfen. Aber unsere Seele hat einen langen Atem und wird diesen Kampf niemals aufgeben. Wie eine weise Löwin, die sich ihrer Kraft bewusst ist und deshalb das Geschehen in Ruhe betrachtet, immer bereit zum Eingreifen, wenn es nötig ist. Aber auch sie kann brüllen und gewaltig kämpfen. Sie verfügt über ein breites Portfolio an Helfern, die sie sich an die Seite holt, wenn der Mensch sich vom Ego niederbrüllen lässt.
Unsere Seele arbeitet nicht nur mit unserer Intuition eng zusammen sondern auch mit unserem Körper. Sie nutzt unseren Körper als Sprachrohr, wenn das Lied der Seele gegen das Ego-Gebrüll keine Chance hat. Und unsere Seele ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, sich endlich Gehör zu verschaffen. Sie lässt den Körper schreien, wenn wir nicht auf ihre leisen intensiven Botschaften hören wollen.

Marina hängt an ihrem Erfolg.

Natürlich tut sie das. Und sie weiß auch, dass am Ende niemand unersetzbar ist. Dass sie weiterhin mehr als 100% geben muss, um ihren Status zu erhalten – und an diesem kettet ihr Ego sie fest wie an einer erbarmungslosen Galeere. Marina spürt, dass es ihr nicht gut geht, dass sie in den letzten Monaten deutlich angespannter und gereizter, zugleich aber auch verwundbarer geworden ist. Dass sie die Menschen, die ihr gut tun, vernachlässigt und sie viele Nächte nicht mehr in den Schlaf findet. Sie spürt, wie sehr ihr Körper unter Verspannungen leidet, die auch der erhöhte Konsum von Schmerztabletten und Rotwein nicht mehr abfangen können.
Marina weiß natürlich, dass Sie auf keinem guten Weg ist. Sie weiß auch, was sie stattdessen tun sollte. Kürzertreten, auch mal NEIN sagen, mehr feste Zeitfenster für ihre Familie einplanen und für sich selbst. Aber es gelingt ihr einfach nicht. Zu groß ist der Druck, den sie von außen spürt, zu stark die Angst zu versagen. Das hielte ihr Ego nicht aus. Deshalb peitscht es sie weiter voran.
Marina steht nah am Abgrund. Und statt einen großen Schritt zurück zu machen, steuert sie bewusst immer weiter drauf zu. Versagt sich die Möglichkeiten der positiven Abwechslung, um das Gewohnte, das sie fertig macht, um jeden Preis weiterlaufen zu lassen. Investiert ihre letzte Kraft in den eigenen Fall. Bringt sich selbst in die energetische Insolvenz statt ihr Portfolio neu auszurichten.

Der Löwe bäumt sich auf, die Löwin sagt: „Ich wusste es von Anfang an.“

Natürlich ist das alles immer viel leichter gesagt als getan. Marina ist nur ein Beispiel von unzähligen Menschen, die sich ihren Erfolg hart erarbeitet haben und deren gute Geister der Ambition zu Dämonen der High-Performance mutiert sind, die sie auf die dunkle Seite ziehen. Wir möchten alle anerkannt und geliebt werden, in unserer Leistung gewürdigt und gewertschätzt. Es ist ein erhebendes Gefühl, sich einen Expertenstatus erarbeitet zu haben, begeistertes Feedback zu bekommen und sich ein wohlhabendes Leben leisten zu können. Es tut uns gut, zeigt uns, dass sich die ganze Mühe, die wir auf uns genommen haben, gelohnt hat.
Aber wenn wir uns unserem eigenen Erfolg und unserem Drang nach Anerkennung unterwerfen, sind wir in den Schnellzug eingestiegen, der von selbst nie wieder halten und unweigerlich gegen die Wand fahren wird. Es ist so schwer, unserem Ego auf Augenhöhe zu begegnen und es in gesunde Schranken zu weisen. Es ist so anstrengend für uns selbst gut zu sorgen und Grenzen zu ziehen, besonders wenn andere Menschen deshalb sauer auf uns sind. Für uns selbst einzustehen, wenn wir doch sowieso schon am Ende unserer Kräfte sind und wir einfach nur unsere Ruhe haben möchten.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht.

Oft sendet uns das Leben in genau diesen Momenten der vermeintlichen Schwäche einen Anker, der uns hilft, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Eine passende Inspiration oder einen Menschen, der einfach nur da ist, zuhört, uns in den Arm nimmt und bei dem wir aufatmen dürfen ohne etwas zu leisten. Unser Ego wird uns vermutlich befehlen, diesen Anker zu verschmähen um weiter zu schwimmen wie bisher. Unsere Seele ermutigt uns, nach ihm zu greifen, weil es genau das ist, was wir jetzt wirklich brauchen.
An alten Mustern bis zum Zusammenbruch festhalten oder neue Chancen nutzen. Diese Wahl nimmt uns niemand ab. Aber genau diese Schlüsselmomente sind die Weichenstellung, ob wir uns für oder gegen uns selbst entscheiden. Ob wir den Schnellzug bremsen oder weiterrauschen lassen.

Nach einem Schwächeanfall hat sich Marina zwei Wochen am Stück frei genommen, das erste Mal nach einer gefühlten Ewigkeit. Eine Woche davon wird sie allein auf dem Land verbringen. Einfach mal nur für sich sein, atmen, schlafen, essen, nachdenken, ordnen… Sie hat sich auf den Weg zurück zu sich gemacht. Endlich. Wie es danach weitergehen wird, weiß sie jetzt noch nicht. Und das ist ok.

Darf ich die Welt mal abschalten?

Digital Detox

Das Trilemma von News-Sucht, Digital Detox und Gewissensbissen

Anton ist erschöpft. Erschöpft von dem ganzen Leid auf unserer Erde, dem nicht enden wollenden Strom negativer Nachrichten über eine Welt, die jeden Tag etwas mehr in Flammen aufzugehen scheint. Den ständigen Informationen über den Schmerz, den sich die Menschen täglich zufügen, ergänzt um die Prophezeiungen der Klimakatastrophe, in die wir fokussiert reinsteuern und der Angst vor einem Krieg, der die Welt immer mehr in Besitz zu nehmen droht.
Es ist schwer, damit einen passenden Umgang zu finden, sich nicht von der Welle der negativen Energie überfluten zu lassen, die unweigerlich auf uns zurollt, sobald wir die Medien einschalten oder mit Anderen in die Diskussion gehen. Manchmal möchte man verrückt werden vor Wut, Angst und Resignation. Anton befindet sich in einem Trilemma, das wir vermutlich alle kennen.

News-Sucht – Digital Detox – Gewissensbisse

„Ich möchte natürlich informiert sein, um mir ein Bild machen zu können und gleichzeitig die nötige Empathie für die Betroffenen entwickeln. Ich sehe es auch als meine Pflicht, als mündiger erwachsener Mensch am Weltgeschehen teil zu haben und meine Augen nicht zu verschließen. Und gleichzeitig merke ich, dass mich diese Flut an negativen Nachrichten so runterzieht, dass ich häufig selbst in Pessimismus und Mutlosigkeit versinke. Und dann bin ich für mich und mein direktes Umfeld auch nicht mehr die Bereicherung mehr, die ich sein möchte.“
Anton lässt resigniert die Schultern hängen. „Aber schon allein die verstörenden Bilder der Kriegsruinen, der Flüchtlinge, der Verletzten und Toten, die schrecklich hohen Zahlen der Opfer, verschleppte Kinder, Terroranschläge… Ich kriege diese Bilder oft gar nicht mehr aus dem Kopf. Und auf der anderen Seite greife ich doch jede Stunde zum Handy und checke die Nachrichten und Live-Ticker.“ Antons Stimme wird leiser, er fühlt sich hilflos.

Dürfen die wir Welt da draußen auch mal abschalten?

Ist es ok, unseren Radius bisweilen klein zu machen, ohne uns den Vorwurf der mangelnden Empathie und Engstirnigkeit zu machen? Heißt es automatisch, dass wir uns eine Welt voller rosa Einhörner und Luftschlösser phantasieren, wenn wir es uns einfach mal schön machen und unsere privilegierte Situation bewusst genießen? Dass wir einfach nicht verstanden haben, WIE schlimm wirklich alles ist, wenn wir uns diese Auszeiten erlauben, um uns mental wieder aufzurichten?
Diese Fragen polarisieren unglaublich. Und vorab: Es gibt auch hier kein Schema F, das immer richtig ist und für alle passt. Auch hier ist die individuelle Resilienz, die eigene Selbstfürsorge und die Erlaubnis, sich diese auch zu gönnen, der Schlüssel. Fern von dem Versuch der kollektiv verordneten Betroffenheit, die uns manche aufzwingen möchten.
Anton fühlt sich zerrissen. Zerrissen auf der einen Seite von dem Wunsch, seine Solidarität zu den Betroffenen durch Anteilnahme und auf dem Laufenden sein auszudrücken und auf der anderen Seite von dem Bedürfnis, für sich selbst mental gut zu sorgen und von der Welt auch mal Abstand nehmen zu dürfen. Die regelmäßigen Diskussionen, die er mit Menschen in seinem Umfeld darüber führt, machen es nicht besser. Die rigorosen News-Verweigerer auf der einen Seite – die Nachrichten-Junkies auf der anderen. Und Anton irgendwie mittendrin in diesen emotional aufgeladenen Wortgefechten, die oft lange dauern, aber die Fronten eher verhärten als aufweichen. Die häufig das Thema Schuld auf den Tisch bringen und die Verunsicherung des passenden Nachrichtenkonsums noch mehr mit dem schlechten Gewissen belasten.

Anton möchte einfach mal seine Ruhe haben.

„Ist das denn so egoistisch und ignorant?“ fragt er aufgebracht.

Ist es nicht, denn wir brauchen Phasen des Abschaltens, des Runterfahrens, der Stille und der Regeneration. Auch, um das bis dahin Erlebte sinnvoll verarbeiten zu können. Anton wünscht sich die Erlaubnis dazu – und die kann er sich nur selbst geben. Das Trilemma, in dem er sich befindet, wird niemand für ihn passend lösen können. Nicht für Anton, nicht für uns. Die Welt steht niemals still.
Unsere Balance zu finden zwischen der nötigen Information, der individuellen Empathiefähigkeit und einer gesunden Selbstfürsorge gelingt nur durch ehrliche Achtsamkeit für uns selbst.
Natürlich werden uns viele Nachrichten sehr nahe gehen, und das ist völlig in Ordnung. Vielleicht entsteht dadurch sogar in uns der Impuls, direkt zu helfen, uns einzubringen, einen positiven Beitrag zu leisten. Etwas Gutes im Schlechten zu bewirken. Dadurch Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Aber wo ist unsere Grenze?
Diese Grenze wahrnehmen zu dürfen und für uns selbst gegenzusteuern ohne uns dafür anzuklagen, ist der Schlüssel für eine gelebte Resilienz in diesen herausfordernden Zeiten. Wir dürfen und sollen entscheiden, welches Maß an Nachrichtenkonsum wir für uns als richtig erachten. Richtig nicht im Sinne irgendwelcher Statistiken sondern im Sinne unserer Kraft- und Energie-Balance. Wie viel kannst Du wirklich verkraften?

Dieser selbstbestimmte Ansatz hilft Anton weiter.
„Es klingt so banal und eigentlich weiß ich das natürlich – aber diese Legitimation nochmal zu hören ist total ermutigend.“ Anton sitzt jetzt wieder gerader, die Last des schlechten Gewissens scheint bis auf Weiteres etwas abgefallen zu sein.
Uns vorübergehend zu entkoppeln heißt nicht, dass wir emotionslose uninteressierte Zombies sind. Es heißt, dass wir mit uns gut umgehen, um auch anderen dauerhaft Kraft spenden zu können. Es heißt, dass wir aktiv entscheiden, was wir uns gerade antun können und wollen.

Die Welt können wir nicht abschalten, aber wir dürfen in Distanz gehen.

Wie siehst Du das?

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Erwachsenwerden erlaubt!

Emanzipation in der Familie

Der 70. Geburtstag des Vaters steht an, große Familienfeier, alle werden da sein: Mutter, Tante Ulrike, Onkel Karl, die älteren Geschwister Anja mit Mann und ihren 2 vielversprechenden Kindern und Thomas, der extra für dieses Ereignis von seinem Lehrauftrag an der Universität in Boston gekommen ist – und Hendrik.
Hendrik hat seit Wochen Bauchschmerzen, wenn er an diese Feier denkt, an dieses seinen Worten nach „Zurschaustellen der jeweiligen Erfolge und dem Fegefeuer der Eitelkeiten“. Bei Hendrik läuft es gerade nicht so besonders: Mit seinen 30 Jahren quält er sich immer noch an der Uni mit seinem Examen herum, seine letzte Partnerschaft ging vor 2 Monaten in die Brüche, und auch sonst fühlt er sich getrieben ohne Orientierung. Er hat aktuell nicht wirklich etwas vorzuweisen, womit er imponieren könnte und fühlt sich gegenüber seiner Familie unterlegen.

„Allein das Gehabe von meinen Geschwistern, die mir ihre Erfolge unter die Nase reiben, ihre Kinder in den Vordergrund stellen und sich bei meinen Eltern permanent einschmeicheln, kotzt mich an. Und dann gucken die mich so mitleidig an, fragen mich, wie es bei mir läuft und quatschen etwas von besseren Zeiten, die kommen werden.“
Hendrik ist wütend. Auf die Anderen, vielleicht auch ein bisschen auf sich selbst. Aber auf die Anderen wütend zu sein ist einfacher.
„Meine Eltern wollen immer wissen, wann ich endlich meinen Abschluss habe, dieser latente Druck nervt total – und dann stehe ich natürlich wieder als schwarzes Schaf gegenüber meinen Geschwistern da, die ja angeblich alles richtig machen und versuche verzweifelt, mich zu rechtfertigen.“
Vielleicht übertreibt Hendrik hier ein bisschen und nimmt die Familie durch seine von Frust verzerrte Brille wahr. Aber wenn er gefragt wird, wie er sich bei dem Gedanken an die Konfrontation mit der Familie fühlt, fallen Worte wie „klein, gemaßregelt und minderwertig“.
„Mama und Papa haben immer viel verlangt und klar gemacht, was sie unter einem guten und erfolgreichen Leben verstehen. Das war und ist der Maßstab für uns Kinder.“

Wir dürfen erwachsen werden

In genau dieser Aussage liegt der Kern des Problems: Hendrik ist eben KEIN Kind mehr sondern ein erwachsener Mann, dennoch nimmt er gegenüber seinen Eltern und älteren Geschwistern automatisch wieder die Kindrolle an und gerät in einem Strudel aus Rechtfertigung, Gehorsam und Unterlegenheit. Alles, was er in seinem Erwachsenenleben gelernt und erfahren hat, scheint plötzlich in den Hintergrund zu treten, gefühlt ist er wieder 5 und nicht mehr 30 Jahre alt.
Die Bedeutung des Wortes Erwachsen werden kann man unterschiedlich definieren, manche halten es für spaßbefreite Zeitverschwendung, andere für ein Sinnbild von vernünftiger und gut geplanter Lebensführung. Erwachsen werden heißt aber vor allem, dass wir lernen, uns von unseren Eltern abzugrenzen und unsere eigenen Positionen, unsere eigene Identität zu entwickeln und dafür gerade zu stehen. Das kann manchmal konform zu den Positionen unserer Eltern sein, muss es aber nicht. Wichtig ist, dass wir uns trauen, bewusst selbst zu entscheiden, was wir von uns und unserem Leben erwarten, was uns wichtig ist und wer wir sein möchten.
Das ist oft leichter gesagt als getan. Unsere Kernfamilie, besonders die Eltern haben eine große Macht über uns. Die Eltern sind unser erster und stärkster Maßstab, ihre Erwartungen und Bewertungen prägen unsere Vorstellung über uns selbst und das, was wertvoll, richtig oder falsch ist.
Als Kind verfügen wir in der Regel nicht über die Fähigkeit abzuwägen und zu hinterfragen. Wir übernehmen die Grundsätze der Eltern und deren Bewertungen als Tatsache und integrieren sie in unsere Identität. Wir fühlen uns verpflichtet und geraten automatisch in die Rolle des unterlegenen Kindes, wenn wir mit der Kernfamilie in Konfrontation geraten. Statt uns selbstbewusst zu behaupten, machen wir uns klein, gehorchen und fühlen uns schlecht, weil es „jedes Mal dasselbe ist.“
Uns von diesem Rückfall in die Kindrolle als erwachsene Menschen frei zu machen, ist oft ein langwieriger und anstrengender Prozess. Aber wir brauchen diese Emanzipation, um unser Leben selbstbestimmt führen zu können und mit uns wirklich im Reinen zu sein. Das heißt nicht, dass wir ständig auf Kontrakurs zu den Eltern gehen müssen, wichtig ist, dass wir uns selbst erlauben zu entscheiden, wofür wir stehen und was wir für richtig halten.

Loyalität heißt nicht Kind bleiben

Hendrik überlegt. „Das fühlt sich fast wie Verrat an, wenn ich mich von den Vorstellungen meiner Eltern frei mache. Schließlich meinen die es ja auch irgendwie gut. Auf der anderen Seite merke ich, dass sich mein Bauch bei dem Gedanken an die Abgrenzung gerade etwas entspannter anfühlt.“
Was Hendrik durch den Kopf geht, ist ein häufiges Loyalitätsdilemma. Einerseits wissen wir, wie wichtig die Emanzipation von unseren Eltern für unsere Selbstwerdung ist, auf der anderen Seite spüren wir, wie verbunden wir den erlernten Mustern sind und fühlen uns diesen nach wie vor verpflichtet. Der Gedanke des „Verrats“, des Loyalitätsbruchs zu unserer Familie ist häufig ein starkes Gegengewicht zu dem Ablegen der gehorsamen Kindrolle. Bei vielen Menschen behält diese Loyalität ein Leben lang die Oberhand, häufig mit der Konsequenz der bitteren späten Erkenntnis, nie wirklich das Leben gelebt zu haben, das man eigentlich wollte.
Erwachsenwerden bedeutet Abschiednehmen, neu beginnen, selbstbestimmt zu agieren und zu entscheiden, zu hinterfragen und sich zu positionieren. Wir dürfen unsere Rolle in unserer Familie neu definieren, so wie sie sich für uns stimmig anfühlt. Vermutlich wird sich das Familiensystem dadurch verändern, vielleicht findet nicht jeder unsere Neuausrichtung sofort toll. Aber wer sagt, dass Erwachsenwerden immer einfach ist?
Hendrik raucht der Kopf. „Das muss ich erstmal sacken lassen. Ich spüre aber ein kleines Kribbeln in meinem Kopf. Bis jetzt bin ich immer ganz selbstverständlich in die Kindrolle gerutscht und habe mir gar nicht die Frage gestellt, ob das nötig ist. Jetzt wird mir zum ersten Mal bewusst, dass ich selbst entscheiden kann, was ich unter Erfolg verstehe und mich zu den Erwartungen der Anderen abgrenzen darf. Bis ich das aber selbstverständlich integriert habe, wird es wohl etwas dauern.“
Das ist ok. Intensive Veränderungsprozesse brauchen Zeit.
Es wäre zu viel zu behaupten, dass sich Hendrik jetzt auf die Familienfeier freut, aber er wird mit einem stärkeren Selbstbewusstsein in den Zug Richtung Heimat steigen, mit neuen Ideen und weniger Bauchschmerzen.
„Ein Teil von mir fühlt sich jetzt größer, im positiven Sinne älter und stärker.“

Das ist doch ein guter Anfang.

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