Erwachsenwerden erlaubt!

Emanzipation in der Familie

Der 70. Geburtstag des Vaters steht an, große Familienfeier, alle werden da sein: Mutter, Tante Ulrike, Onkel Karl, die älteren Geschwister Anja mit Mann und ihren 2 vielversprechenden Kindern und Thomas, der extra für dieses Ereignis von seinem Lehrauftrag an der Universität in Boston gekommen ist – und Hendrik.
Hendrik hat seit Wochen Bauchschmerzen, wenn er an diese Feier denkt, an dieses seinen Worten nach „Zurschaustellen der jeweiligen Erfolge und dem Fegefeuer der Eitelkeiten“. Bei Hendrik läuft es gerade nicht so besonders: Mit seinen 30 Jahren quält er sich immer noch an der Uni mit seinem Examen herum, seine letzte Partnerschaft ging vor 2 Monaten in die Brüche, und auch sonst fühlt er sich getrieben ohne Orientierung. Er hat aktuell nicht wirklich etwas vorzuweisen, womit er imponieren könnte und fühlt sich gegenüber seiner Familie unterlegen.

„Allein das Gehabe von meinen Geschwistern, die mir ihre Erfolge unter die Nase reiben, ihre Kinder in den Vordergrund stellen und sich bei meinen Eltern permanent einschmeicheln, kotzt mich an. Und dann gucken die mich so mitleidig an, fragen mich, wie es bei mir läuft und quatschen etwas von besseren Zeiten, die kommen werden.“
Hendrik ist wütend. Auf die Anderen, vielleicht auch ein bisschen auf sich selbst. Aber auf die Anderen wütend zu sein ist einfacher.
„Meine Eltern wollen immer wissen, wann ich endlich meinen Abschluss habe, dieser latente Druck nervt total – und dann stehe ich natürlich wieder als schwarzes Schaf gegenüber meinen Geschwistern da, die ja angeblich alles richtig machen und versuche verzweifelt, mich zu rechtfertigen.“
Vielleicht übertreibt Hendrik hier ein bisschen und nimmt die Familie durch seine von Frust verzerrte Brille wahr. Aber wenn er gefragt wird, wie er sich bei dem Gedanken an die Konfrontation mit der Familie fühlt, fallen Worte wie „klein, gemaßregelt und minderwertig“.
„Mama und Papa haben immer viel verlangt und klar gemacht, was sie unter einem guten und erfolgreichen Leben verstehen. Das war und ist der Maßstab für uns Kinder.“

Wir dürfen erwachsen werden

In genau dieser Aussage liegt der Kern des Problems: Hendrik ist eben KEIN Kind mehr sondern ein erwachsener Mann, dennoch nimmt er gegenüber seinen Eltern und älteren Geschwistern automatisch wieder die Kindrolle an und gerät in einem Strudel aus Rechtfertigung, Gehorsam und Unterlegenheit. Alles, was er in seinem Erwachsenenleben gelernt und erfahren hat, scheint plötzlich in den Hintergrund zu treten, gefühlt ist er wieder 5 und nicht mehr 30 Jahre alt.
Die Bedeutung des Wortes Erwachsen werden kann man unterschiedlich definieren, manche halten es für spaßbefreite Zeitverschwendung, andere für ein Sinnbild von vernünftiger und gut geplanter Lebensführung. Erwachsen werden heißt aber vor allem, dass wir lernen, uns von unseren Eltern abzugrenzen und unsere eigenen Positionen, unsere eigene Identität zu entwickeln und dafür gerade zu stehen. Das kann manchmal konform zu den Positionen unserer Eltern sein, muss es aber nicht. Wichtig ist, dass wir uns trauen, bewusst selbst zu entscheiden, was wir von uns und unserem Leben erwarten, was uns wichtig ist und wer wir sein möchten.
Das ist oft leichter gesagt als getan. Unsere Kernfamilie, besonders die Eltern haben eine große Macht über uns. Die Eltern sind unser erster und stärkster Maßstab, ihre Erwartungen und Bewertungen prägen unsere Vorstellung über uns selbst und das, was wertvoll, richtig oder falsch ist.
Als Kind verfügen wir in der Regel nicht über die Fähigkeit abzuwägen und zu hinterfragen. Wir übernehmen die Grundsätze der Eltern und deren Bewertungen als Tatsache und integrieren sie in unsere Identität. Wir fühlen uns verpflichtet und geraten automatisch in die Rolle des unterlegenen Kindes, wenn wir mit der Kernfamilie in Konfrontation geraten. Statt uns selbstbewusst zu behaupten, machen wir uns klein, gehorchen und fühlen uns schlecht, weil es „jedes Mal dasselbe ist.“
Uns von diesem Rückfall in die Kindrolle als erwachsene Menschen frei zu machen, ist oft ein langwieriger und anstrengender Prozess. Aber wir brauchen diese Emanzipation, um unser Leben selbstbestimmt führen zu können und mit uns wirklich im Reinen zu sein. Das heißt nicht, dass wir ständig auf Kontrakurs zu den Eltern gehen müssen, wichtig ist, dass wir uns selbst erlauben zu entscheiden, wofür wir stehen und was wir für richtig halten.

Loyalität heißt nicht Kind bleiben

Hendrik überlegt. „Das fühlt sich fast wie Verrat an, wenn ich mich von den Vorstellungen meiner Eltern frei mache. Schließlich meinen die es ja auch irgendwie gut. Auf der anderen Seite merke ich, dass sich mein Bauch bei dem Gedanken an die Abgrenzung gerade etwas entspannter anfühlt.“
Was Hendrik durch den Kopf geht, ist ein häufiges Loyalitätsdilemma. Einerseits wissen wir, wie wichtig die Emanzipation von unseren Eltern für unsere Selbstwerdung ist, auf der anderen Seite spüren wir, wie verbunden wir den erlernten Mustern sind und fühlen uns diesen nach wie vor verpflichtet. Der Gedanke des „Verrats“, des Loyalitätsbruchs zu unserer Familie ist häufig ein starkes Gegengewicht zu dem Ablegen der gehorsamen Kindrolle. Bei vielen Menschen behält diese Loyalität ein Leben lang die Oberhand, häufig mit der Konsequenz der bitteren späten Erkenntnis, nie wirklich das Leben gelebt zu haben, das man eigentlich wollte.
Erwachsenwerden bedeutet Abschiednehmen, neu beginnen, selbstbestimmt zu agieren und zu entscheiden, zu hinterfragen und sich zu positionieren. Wir dürfen unsere Rolle in unserer Familie neu definieren, so wie sie sich für uns stimmig anfühlt. Vermutlich wird sich das Familiensystem dadurch verändern, vielleicht findet nicht jeder unsere Neuausrichtung sofort toll. Aber wer sagt, dass Erwachsenwerden immer einfach ist?
Hendrik raucht der Kopf. „Das muss ich erstmal sacken lassen. Ich spüre aber ein kleines Kribbeln in meinem Kopf. Bis jetzt bin ich immer ganz selbstverständlich in die Kindrolle gerutscht und habe mir gar nicht die Frage gestellt, ob das nötig ist. Jetzt wird mir zum ersten Mal bewusst, dass ich selbst entscheiden kann, was ich unter Erfolg verstehe und mich zu den Erwartungen der Anderen abgrenzen darf. Bis ich das aber selbstverständlich integriert habe, wird es wohl etwas dauern.“
Das ist ok. Intensive Veränderungsprozesse brauchen Zeit.
Es wäre zu viel zu behaupten, dass sich Hendrik jetzt auf die Familienfeier freut, aber er wird mit einem stärkeren Selbstbewusstsein in den Zug Richtung Heimat steigen, mit neuen Ideen und weniger Bauchschmerzen.
„Ein Teil von mir fühlt sich jetzt größer, im positiven Sinne älter und stärker.“

Das ist doch ein guter Anfang.

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