Sind wir nicht alle ein bisschen Lars?
Lars fühlt sich elend. Und er versteht die Welt nicht mehr.
Diese Welt, die ihm ständig kurzzeitige Beziehungen schickt, die nach ein paar Monaten wieder in die Brüche gehen, weil seine Herzensdamen die Reißleine ziehen. Manche werfen ihm vor zu distanziert zu sein, andere haben ihn als Klammeraffen abgestempelt – wie Lars es auch macht, es scheint immer verkehrt zu sein. Und dabei will er es doch besonders gut machen. „Ich bin offenbar ein totaler Beziehungsversager“, meint er traurig-resigniert und lässt die schweren Schultern hängen. Die letzte Dame, der er sein Herz geschenkt hat, war verheiratet und hat letztlich ihrer Ehe den Vorrang gegeben. „Eigentlich war mir schon klar, dass das zum Scheitern verurteilt war, aber offensichtlich wohnt ihn mir nicht nur ein Blödmann sondern auch ein Masochist.“
Lars ist verdammt müde, aber mit sich selbst schimpfen kann er voller Energie und Überzeugung.
Und er möchte sich endlich selbst verstehen. Möchte an die Quelle seines ambivalenten Beziehungsverhaltens kommen und zur Abwechslung auch mal glücklich sein. Sich gut aufgehoben fühlen, geliebt werden, ankommen. „Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“
Nein, das ist es ganz und gar nicht.
Wir alle haben unsere eigene Geschichte, die unseren Umgang mit Beziehungen geprägt hat.
Lars ist von seiner Mutter allein großgezogen worden. Der Vater hat die beiden verlassen, als Lars 3 Jahre alt war. An ihn hat Lars nur dunkle Erinnerungen, aber er weiß noch, wie der Vater aus dem Haus ging und ihn im Flur zurückließ wie ein ausrangiertes Paar Schuhe. Aber er erinnert sich noch sehr genau, wie verzweifelt seine Mutter war und wie sie ihm einmal unter Tränen sagte, dass der Vater was Besseres gefunden habe und sie ihm nicht mehr genügten. Dass sie einfach ersetzt und weggeworfen wurden.
Da begann der kleine Lars, sich Fragen zu stellen. War er nicht gut genug, so dass der Vater gehen wollte? War etwas mit ihm falsch? Was war denn besser woanders? Und der kleine Lars fand Antworten, die ihm als Kind absolut stimmig erschienen: Irgendetwas musste an ihm nicht wertvoll genug, nicht gut genug gewesen sein, so dass es dem Vater leichtfiel, seinen Sohn und die Mutter zu verlassen. Was genau das sein könnte, konnte Lars nicht identifizieren. Aber offenbar gab es Menschen, die diesen Makel nicht hatten, die es schafften, seinen Vater zu halten. Und damit trat Lars in einen Teufelskreis ein, der ihn bis heute immer wieder in seinen Bann zieht. In den Kreis der inneren Zweifel, Entwertung und Selbstdemontage, die sich im Außen laufend durch weitere Negativerfahrungen manifestiert.
Der Teufelskreis der Selbstdemontage
Wenn wir insbesondere in früheren Jahren unseres Lebens eine tiefe Verletzung erfahren und das schmerzhafte Gefühl erleben, nicht geliebt, nicht gewollt und scheinbar wertlos zu sein, ist das eine Wunde, die wir in der Regel nicht selbst heilen können. Und die sich auch nicht von selbst wieder schließt – egal wie viele Verdrängungsmechanismen und Ablenkungsmanöver wir dafür anwenden.
Und wenn wir dieser Wunde keinen Raum geben, geheilt zu werden, wird diese Ablehnungserfahrung oft zum Teil unserer Identität, zu einer negativen Annahme über uns Selbst, die wir uns täglich immer wieder aufs Neue durch unsere Gedanken und die daraus resultierenden Gefühle erzählen und konservieren. Gerade in jungen Jahren verfügen wir nicht über die intellektuellen Fähigkeiten, Ablehnungserfahrungen kritisch zu hinterfragen und differenziert zu betrachten. Als junger Mensch fühlen wir uns selbst dafür verantwortlich, denken, dass wir schuld sind und etwas an uns nicht gut genug war, um diese Erfahrung zu vermeiden. Dass wir es nicht wert waren, dass ein Mensch bei uns bleibt.
Dann sehen wir uns als die Person, die weder gewollt noch geliebt ist. Wir haben uns einen durch die Vergangenheit scheinbar begründeten und in der Gegenwart immer wieder reaktivierten Filter vor unsere Wahrnehmung gelegt. Und dieser Filter macht unsere Welt dunkel und eindimensional. Er drängt uns in eine Sackgasse, in welcher wir dauerhaft parken.
Der Dauerparkschein in der Sackgasse
Die Tragik liegt oft darin, dass wir durch diese verzerrte, sich verselbstständigte Wahrnehmung permanent nach weiteren Negativerfahrungen suchen, um unser gewohntes entwertetes Bild von uns zu bestätigen. Wir reproduzieren Ablehnungserlebnisse, um unsere Identität des nicht gewollten ungeliebten Menschen zu bestätigen, anstatt uns zu erlauben, uns vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Wir suchen den gewohnten Schmerz, unsere negative Komfortzone. Wir reiben uns eventuell an Beziehungen auf, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, suchen uns Menschen, die für uns nicht verfügbar sind und kämpfen den aussichtslosen Kampf um eine Liebe, die dieser Mensch uns nicht geben kann. Wir suchen in neuen Situationen die Bestätigung alten Schmerzes, statt diese Situationen als Chance zu nutzen, endlich den alten Schmerz zu heilen und unsere Einstellung sowie unser Verhalten zu verändern. Und am Ende finden wir uns wieder auf dem harten Boden der Desillusion, sind allein und haben uns eine weitere Enttäuschung auf unsere geplagten Schultern gepackt, die doch sowieso schon so viel zu tragen haben.
Aber es ist eine gewohnte Last, unser destruktiver Normalzustand. Und wir glauben, nichts Besseres zu verdienen, weil wir es nicht anders kennen – und unbewusst alles dafür tun, dass keine gegenteiligen positiven Erfahrungen in unser Leben treten können. Denn das hieße, dass wir unsere Identität der ungeliebten Person abgeben und uns neuen Sichtweisen öffnen müssten – und dagegen schiebt die Fülle unsere bisher gemachten negativen Erfahrungen einen wirksamen „vernünftig“ evaluierenden Riegel vor. Die bisherige Negativbilanz spricht für sich.
„Wir sind halt, wie wir sind – und echte Liebe erfahren eben nur die Anderen, oder?“
Es ist ein Teufelskreis. Und wir brauchen Unterstützung, um ihn zu bemerken, aufzudröseln und uns die Erlaubnis zu geben, auszusteigen. Es mag paradox klingen, dass es schwer sein soll, aus einem leidvollen Zustand auszusteigen, wenn man doch weiß, dass er einem gar nicht gut tut.
Aber die dunkle Macht lang verinnerlichter dysfunktionaler Muster, wirkt auf vielen Ebenen. Sie leitet unsere Gedanken, unsere Gefühle und unser Verhalten. Wenn wir diese Muster lange genug gefüttert haben, sind sie äußerst widerstandskräftig. Sie haben es sich bequem gemacht in einem Raum, den wir ihnen lange Jahre in unserem Inneren eingerichtet haben. Sie mögen keine neuen Mitbewohner und klammern sich sehr beharrlich in uns fest.
Aber wir dürfen diesen Mietvertrag kündigen. Wir dürfen neue konstruktive Muster bei uns einziehen lassen, die uns liebevoller und zuversichtlicher auf uns selbst schauen lassen und unser Selbstbild positiv verändern, so dass wir uns für positive neue Erfahrungen öffnen können. Aber dafür müssen wir ihnen die Tür aufmachen – und das gelingt am besten mit einem fachkundigen Dritten, der uns kompetent und empathisch auf dieser Reise begleitet.
Wenn wir uns einen neuen Raum geben, in welchem wir uns erlauben, gewollt und geliebt zu sein, werden wir automatisch unsere Gedanken und Gefühle verändern und mit Menschen anders interagieren. Wir bereiten den Boden für neue, positive Erfahrungen. Wir sähen eine neue Ernte, welche nicht wie zuvor zum Vertrocknen verdammt ist, weil wir sie nicht gießen konnten. Aber es braucht Zeit, diese neue Ernte aufgehen zu lassen. Wir brauchen Zeit, um unsere alten destruktiven Muster loszulassen, uns immer wieder zu erlauben, wertschätzend und zuversichtlich auf uns selbst zu schauen und Schönes zu verdienen. Uns diese Zeit und Geduld zu geben, ist gelebte Selbstliebe.
Niemand ist stets vor Verletzung sicher, aber mit einem starken Selbstwertgefühl und der daraus resultierenden Zuversicht verringern wir das Schmerzrisiko massiv. Wir und auch Lars dürfen mit allem rechnen. Auch mit dem Guten!
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