Come to the happy dark side: Toxic positivity

Ines ist erschöpft. Vollkommen.
Sie sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl und wünscht sich drei Dinge: Ein bisschen Zeit für sich, Ruhe und eine Pause von dem, wie sie es nennt, „always-happy-spirituell angehauchten Schwachsinn“, von dem sie nicht nur in den sozialen Netzwerken durch oft selbsternannte Coaches sondern mittlerweile auch von ihren dafür empfänglichen Freundinnen beschallt wird.
„Denk doch mal positiv“, „verbinde Dich mit der Energie der Liebe“, „entscheide selbst, wie Du Dich fühlen willst“ – ich kotze, wenn ich das höre. Dann am besten noch in Kombination mit Fotos von einer Tasse Yogi-Tee, einem Journal (früher nannte man das Tagebuch) und dem ganzen esoterischen Life-Style Gedöns“.

Ines ist genervt. So richtig.
Sie ist alleinerziehend und Mutter eines zweijährigen Sohnes, den sie von Herzen liebt und der sie viel Kraft kostet. Sie arbeitet zu 80%, die häufig aber doch zu 100% werden. Der Vater ihres Sohnes kümmert sich mehr schlecht als recht, die Großeltern wohnen 300 km entfernt. Ines hat jede Menge zu stemmen, und das macht sie richtig gut. Niemals würde sie sich wünschen, dass sie kein Kind bekommen hätte, sie bereut nichts.
„Aber es muss doch möglich sein, mal schlecht drauf, erschöpft und am Ende zu sein, ohne das Gefühl vermitteln zu bekommen, mein Karma zu versauen oder eine Versagerin auf den Gebieten work-life Balance und positiver Gelassenheit zu sein. Natürlich wäre ich gern immer glücklich, aber was die ganzen Life-Coaches da quatschen von wegen, dass man sich immer für das Glück entscheiden kann, ist schwer durchzuhalten, wenn ich pro Nacht nur 5 Stunden schlafe und das Meiste komplett allein managen und finanzieren muss.“

Ines leidet. Heftig.
Nicht nur am chronischen Schlafmangel, sondern an dem von außen „liebevoll“ ausgeübten Druck, ein Leben mit Leichtigkeit in ewiger „Happiness“ führen zu können – wenn sie dabei alles richtig macht und spirituell die nötige Reife erreicht. Wie das angeblich gelingen kann, wollen uns unzählige „Coaches“ und Influencer in den sozialen Netzwerken suggerieren. Mit verklärtem Dauergrinsen oder andächtig geschlossenen Augen und Hand aufs Herz, dem passenden meist veganen Smoothie und sich ständig wiederholenden Kalendersprüchen, zeigen sie uns, wie wir ganz einfach jeden Tag zum schönsten unseres Lebens machen.
Dinge positiv zu betrachten und den Fokus grundsätzlich auf Fülle im Leben statt auf Mangel auszurichten, ist essentiell wichtig – darf aber nicht zum Dogma werden, das subtil mit Elementen von Versagen und Bestrafung arbeitet. Hier wird die gute Absicht der positiven Ausrichtung toxisch. Häufig wird uns eingeflüstert, dass wir alles Negative in unserem Leben positiv umdeuten können, und dass allein wir diese Entscheidung treffen. Natürlich können wir viel in unserem Leben aktiv gestalten – zum Glück. Dass es aber Ereignisse und Situationen im Leben gibt, die wenig bis gar kein Potenzial für positive Umdeutungen bergen, dass wir sie mit plakativer positiver Umdeutung ggf. bagatellisieren und in die Verdrängung gehen, wird häufig vernachlässigt. Heilung ist oft das Zauberwort – genau diese wird durch toxic positivity jedoch ausgebremst. Dennoch springen Massen an Followern auf diesen Zug Richtung Regenbogen auf und befeuern sich gegenseitig, indem sie auf den social networks durch ihre Posts und Bilder eine Scheinrealität verbreiten, die einem Club mit strikten Regeln gleicht. Gelingt es Dir nicht, happy, heilig und hoffnungsvoll zu sein, bist Du leider draußen und gehörst nicht dazu.
Dass es Tage, ja ganze Episoden gibt, die einfach nur schrecklich sind, dass Momente existieren, wo Nägel statt Glitter auf uns herabzuregnen scheinen, dass wir manchmal grau, vielleicht sogar schwarz statt pink und sonnengelb sehen, wird häufig geflissentlich ausgeblendet. Das wäre ja auch keine Positivity sondern Negativity – und das verkauft sich wesentlich schlechter und fühlt sich auch verdammt beschwerlich an.
Und so geht es uns, wenn wir ehrlich sind, häufig wie Ines.  „Es muss doch möglich sein, einfach mal abzukotzen, statt jeden Abend mein Dankbarkeitstagebuch zu führen und mir vorzugaukeln, dass alles wunderschön sei. Das ist es häufig einfach nicht, und das ist auch ok. Aber der Gedanke, dass ich einfach falsch denke, falsch fühle, in irgendeiner Form spirituell ungenügend und schuld an meinem schlechten Tag bin, schwingt mittlerweile immer mit. Da fühle ich mich manipuliert und hilflos. Wenn ich dann noch den Fehler begehe, ein soziales Netzwerk zu öffnen und die ganzen Grinsebacken sehe, reicht es mir echt.“
Zumindest den letzten Teil kann Ines tatsächlich selbst entscheiden. Es tut ihr gut, regelmäßiges social-network-detoxing zu betreiben und sich mehr auf sich selbst zu besinnen als sich von Anderen beeinflussen und ärgern zu lassen.

Häufig werden diese Eindrücke von außen bewusst oder unbewusst noch angestachelt.
Ines erzählt: „Vor einer Woche hatte ich Besuch von einer Freundin. Ich hatte einen harten Tag hinter mir, Leo musste früher aus der Kita abgeholt werden, da er sich übergeben hatte, ich nahm viel Arbeit nach Hause und habe bis 20 Uhr gearbeitet. Ich saß um 21h30 erschöpft mit meiner Freundin auf dem Sofa und wollte eigentlich nur ein bisschen Empathie, ein offenes Ohr und Rückhalt. Stattdessen hielt sie mir, beflügelt von irgendeinem Online-Kurs, den sie gerade gemacht hat, einen Vortrag darüber, dass ich einfach dankbar sein müsse, dass ich einen Job und ein Kind habe und mein Herz für den inneren Reichtum öffnen solle. Dann käme die Energie von ganz allein. Meine Freundin hat keinen Job, 2 Kinder, einen gutverdienenden Mann und eine Nanny. Da klangen ihre Worte für mich in meiner Situation wie Spott und Beleidigung“.

Ines’ Zorn ist mehr als verständlich.
Denn das Problem der oberflächlichen Mainstream toxic positivity ist, dass sie systematisch ignoriert, dass viele Menschen sich in Situationen befinden, wo ihre Entscheidungsfähigkeit für das Glück massiv eingeschränkt ist. Für Menschen mit Depressionen z.B. sind Plattitüden wie „wende Dein Gesicht zur Sonne, dann fallen die Schatten hinter Dich“ und „Sei der Schöpfer Deiner Welt“ reiner Hohn.
Toxische Positivität kann den Eindruck vermitteln, alles falsch zu machen, wenn wir nicht jeden Morgen mit seligem Lächeln als dem Bett springen und uns mit einer ausgiebigen meditativen Morgenroutine auf einen Tag voller Wunder einstellen. Hier wird die positive Maske zur hässlichen Fratze.
Wir sind Menschen, keine positiv programmierten Roboter. Da wir uns jedoch alle – verständlich – nach immerwährendem Glück sehen, sind wir empfänglich für Ideen, Angebote und Bilder, die uns weismachen, dass dieser Zustand erreichbar sei. Und das lassen wir uns viel kosten. Dass die Gesichter dieser Trends häufig jede Menge Menschen um sich haben, die ihnen Arbeit abnehmen und den bis ins kleinste Detail perfekt aufbereiteten glücklichen Auftritt für sie initiieren, vergessen wir häufig. Genau das unterscheidet jedoch die stay-positive-BotschafterInnen von Ines, die, wie viele andere Menschen auch, jeden Tag ihre ganze Kraft aufwendet, um ihr Leben und das ihres Kindes zu meistern.

Ines möchte da nicht mitmachen.
Sie möchte sich gute und schlechte Zeiten erlauben, nach Möglichkeit natürlich mehr gute als schlechte. Aber sie möchte sich weiterhin das Recht vorbehalten, auch mal ehrlich schlecht drauf, ausgelaugt, vielleicht sogar pessimistisch zu sein, ohne die milde lächelnde spirituelle rote Karte zu bekommen. Heilung liegt häufig bereits in genau dieser Erlaubnis, die wir uns selbst geben, für die wir einstehen und die uns hilft, uns von dem toxisch-positiven Mainstream zu emanzipieren. Uns zu gestatten, ohne Zensur wahrzunehmen, was ist und dann in unserem Tempo zu entscheiden, wie wir damit umgehen wollen.

Ines fühlt sich mit dieser Erkenntnis deutlich leichter.
„Ich darf auch mal das graue Schaf in der rosaroten Herde sein. Am Ende eines harten Tages möchte ich eben lieber Rotwein und Breaking Bad als Tee und Meditation“, sagt sie lachend.

Und das ist vollkommen in Ordnung.

Foto: www.pexels.com/ Zachary Spears